Ivan Bentchev

Die russischen Ikonen aus der Sammlung Fannina Halle im Ikonen-Museum Recklinghausen*

In: EIKON. Gesellschaft der Freunde der Ikonenkunst e.V., Mitteilungsblatt 2, Recklinghausen 2009, S. 11-15

 

Museen und Privatsammlern ist es zu verdanken, dass weltweit der Bestand der Denkmäler von Kunst und Kultur bis heute bewahrt bliebt. Für die Bereicherung bereits vorhandener und neu gegründeter berühmter Museen sind wir oft Privatbesitzern verpflichtet. In den 1920- 1930-er Jahren reihten sich auch Nicht-Russen in die Riege der Ikonensammler ein, die häufig sowohl über umfangreiche Sachkenntnis als auch über die notwendigen Mittel und Möglichkeiten für die Schaffung ganz neuer Kollektionen im Westen verfügten. In ihren Sammlungen begegnete man oft wahren »Perlen« russischer Ikonenmalerei, d.h. Meisterwerken, die zur Zierde der Dauerausstellungen westeuropäischer Museen wurden.

 

Jede private Kollektion ist ein Teil des geistigen und materiellen Erbes eines Landes. Auf der Grundlage von 73 aus Privatbesitz erworbener Ikonen wurde im Jahre 1955 das Ikonen-Museum Recklinghausen gegründet. Hierbei handelte es sich um die Sammlungen von Dr. med. Heinrich Wendt (1901–1956) und des Kenners russischer Geschichte und Kultur, des Professors der Königsberger und Wiener Universitäten Dr. Martin Winkler (1893–1982). Bereits in den ersten Monaten nach der Museumsgründung wurde die Sammlung um 150 Ikonen aus anderen Privatsammlungen und aus kommerziellen Galerien ergänzt. Anfang der 1960-er Jahre gelang es dem Museum drei großformatige Ikonen aus dem Besitz von Baron Hans Heinrich von Herwarth von Bittenfeld (1904–1999) zu erwerben, der in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts Attaché und Sekretär des deutschen Konsulats in Moskau war. Gleichzeitig gelangte das Ikonen-Museum in den Besitz von 50 Ikonen aus dem Besitz des russischen Antiquitätenhändlers in Paris Alexandre Popoff (1885–1965).[i]

Im Jahre 1957 wurden zehn Ikonen aus der Kollektion der damals in New York lebenden Kunsthistorikerin und Soziologin Dr. Fannina Halle hinzugekauft. In Folgendem werden wir versuchen, nicht nur diese interessanten Ikonen vorzustellen, sondern auch Biographisches über Frau Halle zu berichten, die mit dem russischen Volk verbunden und versierte Kennerin seiner Kultur und Kunst war.

Fannina Borisovna Halle (geb. Rubinštejn) wurde am 26. Oktober 1881 in der litauischen Stadt Panevežys (bis zum 1. Weltkrieg russ. Ponewež im zaristischen Gouvernement Kowno) geboren. Nach dem Lehrerdiplom reiste sie nach Berlin um dort Philosophie und Germanistik zu studieren. 1907 heiratete sie einen Österreicher und erhielt die österreichisch-ungarische Staatsangehörigkeit. Nach einigen Semestern des Studiums der Kunstgeschichte in Zürich und Berlin fing F. Halle 1914 an der Wiener Universität ihre Doktordissertation zur Bauplastik von Vladimir-Suzdal zu schreiben, die 1929 veröffentlicht wurde.[ii] Diese Arbeit zählt zu den grundlegenden Beiträgen zur russischen Architektur und steht in einer Reihe mit den Forschungen von I. I. Tolstoj und N. P. Kondakov.

Neben der altrussischen Kunst gehörte auch das moderne Avantgarde-Theater zu den Interessen von F. Halle. In Wien war sie Vorstandsmitglied der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst, die Anfang der 20-er Jahre gegründet war. In den Zwanzigern veröffentlichte sie Abhandlungen zu Marc Chagall, Lasar Segall, Wassily Kandinsky und Paul Klee.[iii] Ihre Artikel wurden in der deutschen Zeitschrift „Der Querschnitt“ (1925) gedruckt, für welches u.a. so bekannte Persönlichkeiten wie Leonid Leonow, Lidia Sejfulina, Alexander Tairov, Larissa Reissner und Wladimir Majakowski schrieben.[iv] 1929 war sie Mitarbeiterin in der berühmten Bauhaus-Schule in Dessau.

Ihr Buch „Alt-Russische Kunst“, 1922 in Berlin publiziert, war das erste Werk zu Ikonen in deutscher Sprache und wurde auch ins Französische und Italienische übersetzt.[v]

Eine freundschaftliche Beziehung verband F. Halle mit mehreren Intellektuellen und Künstlern, so z.B. mit Wassily Kandinsky und Oskar Kokoschka, der ein Portrait von ihr zeichnete (heute in der Tate Gallery, London).

Vor und nach der Revolution besuchte F. Halle mehrmals Russland. Dort lernte sie 1911 A. I. Anisimov kennen, der ihr – nach eigenem Zeugnis – eine Ikone schenkte. Womöglich war das die großformatige Ikone der Muttergottes von Vladimir, die heute in Recklinghausen ist. Im Ikonen-Museum Recklinghausen wird ein Aufsatz A. I. Anisimovs aufbewahrt mit der Widmung auf Russisch: „Für Fanni Borisovna Halle mit aufrichtigen Grüßen des Autors. Moskau. Mai 1921).[vi] Dort wird auch A. I. Anisimovs Buch „Die vormongolische Periode der altrussischen Malerei“ (Moskau 1928) mit der Widmung „Der teuren Fanni Borisovna Halle mit herzlichen Grüßen von einem alten Freund, der diese Abhandlung verfasste. Die Buchstaben b.m. stehen für Bogomater’ [Muttergottes]. A. I. Anisimov.“

Mit der Doktorarbeit waren für F. Halle Anfang der 1920-er Jahre neue lange Reisen in das sowjetische Russland verbunden. So reiste sie zu wissenschaftlichen Zwecken 1924 dorthin mit der Unterstützung von VOKS  - Allunions-Gesellschaft für kulturelle Verbindung zum Ausland.[vii] Im selben Jahr veröffentlichte F. Halle einen kleinen exklusiven Ikonenkatalog der Sammlung des ehemaligen Museums Kaiser Alexander III. in St. Petersburg.[viii] Die gesamte Auflage war für den Kreis der Freunde des berühmten Leipziger Verlags für Kunstliteratur E.-A. Seemann vorgesehen.

In den 1930-er Jahren begeisterte sich F. Halle für Soziologie und Publizistik, veröffentlichte neue Arbeiten zu altrussischer Kunst und zu der Rolle der Frau in der Sowjetunion.[ix] 1940 emigrierte sie in die USA und war dort Stipendiatin der Yale University. Halle hielt als erste Frau eine Vorlesung in dem Oriental Club[x] an dieser Universität. 1946 arbeitete die Forscherin an einem Buch über den Berg-Juden im Kaukasus. F. Halle starb am 14. Dezember 1963 in New York. Ihr Archiv befindet sich im Bakhmeteff-Archiv an der Columbia University, ihre zehn russischen Ikonen ab 1957 im Ikonen-Museum Recklinghausen.[xi]

Während der 1920-er Jahre erwarb F. Halle in Russland mindestens neun Ikonen, die dem berühmten Spezialisten für frühchristliche and altrussische Kunst Prof. Dimitrij Vlas’ievič Ajnalov (1862–1939)[xii] gehört hatten, zu dem sie in enger freundschaftlicher Beziehung stand. So zum Beispiel schenkte ihr D.V. Ajnalov sein Buch „Byzantinische Kunst des XIV. Jahrhunderts“ (Petrograd 1917) mit den Zeilen: „Der verehrten Fanni Halle vom Autor zur Erinnerung 10/II 28. Leningrad.“, und später ein weiteres seiner Bücher mit der Widmung: „Der sehr verehrten Fannina Borisovna Halle vom Autor in guter Erinnerung. (Leningrad 17. Okt. 1933)“. In Russland lernte F. Halle auch Martin Winkler kennen, der 1924 zum ersten Mal dorthin reiste. (Übrigens beteuerte der 1930 inhaftierte A. I. Anisimov bei einem Verhör, dass er 1911 die Bekanntschaft von F. Halle und 1924 die von M. Winkler gemacht hatte. Ebenso versicherte er, niemals eigenständig Ikonen ins Ausland transportiert zu haben, sondern nur zwei Ikonen aus seiner Sammlung an Halle und Winkler verschenkt und die Erlaubnis zur Ausfuhr der Kunstwerke eingeholt zu haben.)[xiii]

Selbstverständlich dachte Prof. Winkler an seine in New York lebende alte Bekannte, als sich die Stadt Recklinghausen zur Gründung des Ikonen-Museums entschloss und so begannen die Verhandlungen mit dem Museumsdirektor Thomas Grochowiak über den Verkauf der Kollektion. Am 4. Mai 1957 schrieb F. Halle nach Deutschland:

„Vielen Dank für Ihren zustimmenden Brief vom 25. IV., der es nunmehr endgültig besiegelt hat, dass ich mich von den Ikonen, – die mir im Verlauf von vielen Jahren, in guten wie in bösen Zeiten, stets nur reinste Freude, warmen Trost und seelisch-geistige Zuflucht entgegengebracht haben, – jetzt definitiv trennen muss ... Sie sehen, dieser Gedanke stimmt mich sogar elegisch. Zugleich aber will ich es nicht verhehlen, wie glücklich es mich macht, dass die kleine Sammlung zu niemand anderem den Weg gefunden hat, als zu Ihrem Museum, für das ich nicht nur seiner blossen Idee wegen, sondern auch der Art nach, wie hoch sein Niveau gepflegt wird, größte Bewunderung hege ...“[xiv]

Nachdem Thomas Grochowiak am 19. September berichtete, dass die Ikonen wohlbehalten in Recklinghausen angekommen waren, schrieb ihm F. Halle noch ein Mal:

„Mir selbst – wie ich es Ihnen einmal schon vor Monaten geschrieben habe, – bedeutet der Gedanke, sowohl die Ikonen, als auch die Bibliothek, an einem Ort zu wissen, an den sie in jeder Beziehung organisch hingehören, die Erfüllung eines Wunsches, den ich seit jeher gehegt habe.“

In diesem Brief weist F. Halle darauf hin, dass eine ihrer Ikonen – die Muttergottes von Vladimir – viele Jahre lang, bis 1937, im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin ausgestellt war[xv], jedoch auch die anderen Ikonen interessant und wertvoll seien.

Für einen Sammler ist die Ausstellung seiner Kollektion immer ein großes Ereignis, insbesondere die Stellung seiner Sammlung im historischen Kontext. Deshalb verfügte F. Halle sechs Jahre vor ihrem Tod großzügig und weise über ihre Ikonen: „Wahre Güte im Hinblick auf die Zukunft“ – schrieb Albert Camus – „liegt in der wahrhaftigen und vollständigen Hingabe an die Gegenwart.“

Sicherlich hatte F. Halle als Expertin in Russland Kontakt zu vielen Wissenschaftlern, Kennern und Sammlern. Zudem entstand ihre Kollektion auf völlig legitimem Wege unter strenger Befolgung der Gesetze. Offensichtlich, ohne dabei besondere Mittel zur Verfügung gehabt zu haben, stellte F. Halle ihre kleine Sammlung nach eigenen Vorlieben zusammen. Sie begeisterte sich wirklich für die russische Ikone, liebte und erforschte sie. Ersichtlich ist der Umstand, dass F. Halles Auswahlkriterien wissenschaftlich begründet waren. Dabei stellte das »weibliche« Thema – das Muttergottes-Motiv –einen ganz besonderen Schwerpunkt in ihrer Ikonensammlung dar. Über alle Maße herausragende Meisterwerke findet man hier nicht, jedoch sind alle Ikonen alt (16.–18. Jh.), und ihr Wert als Kunstobjekte ist unbestreitbar. Neun der zehn Ikonen sind so genannte „Hausikonen“ in den üblichen Maßen. Die älteste Ikone der Sammlung ist die bereits erwähnte Muttergottes von Vladimir aus dem 16. Jahrhundert, die mit 53 cm Höhe auch die größte Ikone ist.

Im Ikonen-Museum Recklinghausen werden derzeit sieben Ikonen aus der ehemaligen Sammlung von F. Halle dauerhaft präsentiert. Die Gottesmutter von Vladimir wurde neulich restauriert und wird demnächst wieder in die Dauerausstellung aufgenommen.

 

·         Иван Бенчев. Русские иконы из собрания Фаннины Галле в Музее икон в Реклингхаузене (Германия) //. Русское искусство. — 2009. — № 1 (21). — Москва, 2009. — C. 76–81. — ISSN 1729-9063 (= „Russkoe iskusstvo“ (Zeitschrift; Themenband: Die russische Ikone), Moskau, I/2009,  S. 76–81)

·         Übersetzung aus dem Russischen:  Anastasiya Zelenkevych.

 



[i] Haustein-Bartsch, Eva / Bentchev, Ivan: Ikonen-Museum Recklinghausen, Moskau 2008. S. 11.

[ii] Halle, Fannina W.: Die Bauplastik von Wladimir-Ssusdal. Berlin 1929, Fol. Mit Titelbild, 1 Karte, 69 meist ganzseitigen fotographischen Tafelabb. u. 13 Abb. im Text. 84 S.

[iii] Halle, Fannina W.: Marc Chagall // Das Kunstblatt, hrsg. von Paul Westheim, 6. Jahrgang (1922), Heft 12, Potsdam 1922, S. 507-517, Abb. S. 517; Fannina Halle. Lasar Segalls Illustrationen zu David Bergelsohns «Maasse-Bichl» // Menorath: Beiträge im Heft 6 des 2. Jahrgangs (1924); Fannina Halle, Dessau: Burgkuhnauer Allee 6-7. Kandinsky und Klee // Das Kunstblatt XIII, 1929, S. 203-210.

[iv] Der Querschnitt, V. Jahrgang, Heft 5, Juni 1925: L. Ljeonow, L. Sejfulina, A. Tairoff, F. Halle, L. Reißner, W. Majakowski u.a.

[v] Halle, Fannina W.: Alt-Russische Kunst. Eine Einführung (= Orbis Pictus, Weltkunst-Bücherei, Bd.2), Berlin, o.J. (1922). Mit 48 Tafeln. 26 S.; Fannina W. Halle: Arte Russa Antica la Civilta Artistica – Vol. V. Roma: Edizioni Di – Valori Plastici, N.D.; Dr. Fannina W. Halle: L’Art de la Vieille Russie. Trad. de Maurice Bloch. Collection «Documents d’Art», Paris, 1922, 24c., 48ill.

[vi] Die Kunsthistorikerin Dr. Carmen Hertz, die 1923 Moskau besuchte, hatte die Möglichkeit die Restaurierung der Ikonen zu beobachten. s. dazu.: Hertz, Carmen: Gräfin Finkenstein Tagebuch einer Reise nach Moskau und Petersburg Mai–August 1923. Bearbeitet von Gerta Calmann geb. Hertz. Gesellschaft der Bücherfreunde zu Hamburg e.V. 1974, S. 45, 64.

[vii] Damals praktisch im System  von NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) und MGB (Ministerum für Staatssicherheit).

[viii] Halle, Fannina W.: Ikonen aus dem ehemaligen Museum Kaiser Alexander III in St. Petersburg: Privatdruck für die Freunde des Verlags E. A. Seemann. Leipzig 1924, ill.

[ix] Halle, Fannina W.: Die Frau in Sowjet-Russland, Berlin/Wien/Leipzig 1932; Halle, Fannina W.: De vrouw uit het Sowjet-oosten, Arnhem, Van Loghum Slaterus, 1937; Halle, Fannina W.: Frauen des Ostens. Vom Matriarchat bis zu den Fliegerinnen von Baku, Zürich, Europa,1938; Halle, Fannina W.: Frauenemanzipation, Bericht aus den Anfängen des revolutionären Russland, 1932 (Neuauflage Westberlin 1973); Halle, Fannina W.: Free Women of Russia // Woman’s Home Companion 70 (Februar 1943) S.30-31.

[x] Biblical People in the Mountains of Soviet-Caucasia (10. Mai 1941).

[xi] Bakhmeteff Archive, Columbia University Libraries.

[xii] Das Verzeichnis der gedruckten Arbeiten D.V. Ajnalovs umfasst ca. 220 Bücher und Artikel. Das Archiv des Forschers wird in St. Petersburg aufbewahrt.

[xiii] KYzlasOva, I. L.: Aleksandr Ivanovič Anisimov (1877-1937). Iz istorii issledovanija chudožestvennoj kultury Vizantii i Drevnej Rusi. (Aus der Geschichte der Erforschung byzantinischer und altrussischer Kunst und Kultur), Moskau 2000. S. 72, 75.

[xiv] Die Zitate aus den Briefen von F. Halle an Grochowiak stammen aus dem Einführungstext von E. Haustein-Bartsch in: Haustein-Bartsch, Eva / Bentchev, Ivan: Ikonen-Museum Recklinghausen, Moskau 2008. S. 11.

[xv] Die Ikone wurde 2008 von Ivan Bentchev restauriert.